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Reisemagazin „unterwegs“, Ausgabe Herbst 2022 („unterwegs.reisen“):
Kellers Kommentar: Vom Glück und Unglück auf Reisen
Was sind wir doch für unruhige Geister! Nie zufrieden. Immer irgendwie auf dem Sprung. Warum? Um etwas Besseres zu finden. Esel, Hund, Katze und Hahn machen sich auf, „um etwas Besseres zu finden.“ Bremer Kinder wachsen mit den Bremer Stadtmusikanten auf und werden früh programmiert, in die weite Welt zu ziehen. Bei mir fand dazu noch Hermann Hesses Novelle „Siddharta“ ihren Weg ins Jugendzimmer und löste heftiges Fernweh aus. Hesse beschreibt einen indischen Fürstensohn, dem jede Behaglichkeit und jedes Vergnügen geboten wird – und den Unzufriedenheit plagt. Er verlässt seine Heimat und sucht nach dem Besseren – nach Erleuchtung: Wer bin ich? Was soll das Leben? Das wusste ich auch nicht mit 20 Jahren. Ärgerlicherweise haben mir weder Eltern noch Lehrer noch sonst wer eine Antwort gegeben. Aber der Pfarrer hat mir wenigsten ein optimistisches Jesuswort mitgegeben: „Wer sucht, der findet!“ In Bremen, ja in Deutschland glaubte ich nichts zu finden. Ein Anderer, ein Besserer zu werden, ist eine so große Sache, dass wohl nur eine ebenso große Unternehmung zum Ziel führen kann. Ich kaufte mir ein Ticket nach Mumbai, packte meinen Rucksack und flog ohne jede Vorbereitung auf das Land los – der Erleuchtung in die weit ausgebreiteten Arme. Genau wie Hermann Hesse, der 1911 als 34-jähriger nach Sri Lanka und Indonesien reiste. Wir beide suchten das Bessere, das uns heilen würde – ihn von seiner Depression, von seiner Ideen- und Sinnleere, mich von meiner Orientierungslosigkeit. Unsere Reisen haben uns nicht geholfen, ein Anderer zu werden. Abgemagert und erschöpft kehrte ich nach fünf Wochen nach Bremen zurück, er krank und ausgelaugt nach Gaienhofen. Die fremde Spiritualität Indiens hatte sich mir nicht erschlossen. Hesse glaubte an ein vergeistigtes Asien als Alternative zu einem Europa ohne tiefere Werte und fand hektische Städte vor, in denen Menschen ums Überleben kämpften und in den Tempeln einen veräußerlichten und verrohten Kult betrieben. Wer sucht, der findet nur, was er tatsächlich finden kann.
Esel, Hund, Katze und Hahn kommen gar nicht ins wunderbare Bremen und machen keine Karriere als Stadtmusikanten, sie finden unterwegs aber einander, bleiben zusammen und bewohnen ein schönes Haus im Wald, aus dem sie böse Räuber vertrieben haben. Sie haben unterwegs ihre Prioritäten, ihre Ziele verändert. Was sie und uns alle antreibt, ist der Wille zum guten Leben. Wenn wir Menschen etwas gemeinsam haben, dann diesen. Wir sind mit dem Status Quo nicht zufrieden, wenn wir eine Ahnung haben, es könnte irgendwo noch etwas Besseres für uns geben. So bleiben wir in Bewegung und begnügen uns nicht damit, uns in einen Ohrensessel zu setzen, den Kopf anzulehnen und weg zu schlummern. Da wartet ja noch ein Jackpot auf uns. Vielleicht finden wir ihn auf der nächsten Reise, im nächsten Urlaub – „der schönsten Zeit des Jahres“. Nur, was ist das Schönste?
Das größte Risiko für einen gelingenden Urlaub bin ich selbst. Ich nehme nicht nur Wanderstiefel, Sonnenbrille und Reiseführer mit – sondern auch mich. Könnte ich mich zu Hause lassen, stünde der schönsten Zeit des Jahres nichts mehr im Wege. Doch, wer ist es denn, der am Strand von Nizza im Liegestuhl sitzt und seinen Kopf von links nach rechts dreht, um die gesamte Breit des Mittelmeers zu erfassen – es ist derselbe, der gerade in den weniger schönen Zeiten des Jahres kleinlich die Fehler seines Arbeitskollegen auflistete und sie dem Chef vortrug. Er wird auch an der Cote d‘Azur Mängel entdecken und auflisten. Er wünscht sich, im Urlaub ein anderer zu sein – und kann nicht aus seiner Haut. Er sucht das bessere Leben, aber ist selbst nicht besser, weil er den Aufenthaltsort wechselt. Er wird also anecken wie zu Hause, rummuffeln wie zu Hause und über viel zu viel Sonne schimpfen, wie er zu Hause über zu wenig schimpft. Am Ende des Urlaubs wird er das ganz und gar Bessere, das Umwerfende, das Wunder nicht gefunden haben. Entweder reagiert er verbittert – oder passt seine Ziele der Realität an.
Menschen bleiben, die sie sind: Das ist die Zusammenfassung meiner anthropologischen Laienstudien. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Der bestimmte Frust, der Volkerchen quälte, quält ihn auch als Volker, auch am anderen Ende der Welt. Er hat heute eine Million Erfahrungen mehr als damals, doch die schwächen den Frust nur minimal. Was wäre das auch für eine wacklige Persönlichkeit, die sich von Grund auf ändern ließe, womöglich allein durch einen Ortswechsel? Nein, daran glaubt er nicht mehr. Eine Kleinigkeit hat er nun doch gelernt: Er will gar kein anderer mehr werden. Für ihn gilt: Sei, der du bist! Aber welches Ziel verfolgt er dann noch auf Reisen?
Ziel des Reisens ist das Augenblicksglück. Der Reisende kann es suchen, kann aufmerksam sein, kann bereit sein, es zu erkennen – aber es lässt sich nicht zwingen. Manchmal will es sich finden lassen. Nach Wochen in der Südsee bemerkte ich eines Tages, dass ich Kreuzfahrt satt hatte. Jeden Tag Meer, Inseln mit Strand, Baden, Hitze, Barbecue – was soll das? Dann wurden wir Passagiere mit Tenderbooten zur Insel Makemo gefahren – noch nie hatte dort ein Kreuzfahrtschiff geankert. Am kleinen Hafen liefen die Dorfbewohner zusammen, sie kamen aus allen Richtungen. Warmherzige, dunkelhäutige Menschen schüttelten unsere Hände und strahlten uns an, legten uns Blumenketten um und holten ihre Gitarren und Ukulelen hervor. Sie sangen für uns. Sie tanzten, wir machten leichte Bewegungen mit. Dann reichten sie mir eine Gitarre und forderten mich auf: Nun spiele du! Ich? Was soll ich spielen? Was kann ich denn auswendig? Ich will mich nicht blamieren. Dann sang ich einfach drauflos: „Ick heff mol en Hamborger Veermaster sehn – to my hoday, to my hoday…“. Einige von uns sangen mit, die Insulaner nahmen die Melodie und die fremden Worte auf und ließen es sich nicht nehmen, irgendwie mit einzustimmen. Ich bekam Tränen in den Augen. Dieses Glück habe ich nie wieder vergessen.