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Reisemagazin „unterwegs“, Ausgabe Sommer 2025 („unterwegs.reisen“):
Glosse: Wo sich der Ruppert wohl gerade herumtreibt
Auf Reisen gibt es für mich etwas Wichtigeres als die Sehenswürdigkeiten. In München wurde mir das einmal mehr bewusst. Die wenige Zeit in der Stadt wollte ich gut ausnutzen und informierte mich deshalb vorab bei Tripadvisor: „Entdecken Sie München“. Um keine Zeit zu verlieren, orientierte ich mich an den Highlights. Schlenderte über den Marienplatz durch ein Meer von Menschen aus aller Welt: freute mich über artistische Surfer, die wie beim Rodeo auf der wilden Eisbachwelle im Englischen Garten ritten und spektakulär kopfüber ins Wasser stürzten; holte das alte Glück aus der Erinnerung am musealen Olympiastadion im Olympiapark hervor, wo die deutsche Fußballnationalmannschaft 1974 Weltmeister wurde. Am Abend saß ich im Hofbräuhaus an einem langen, abgewetzten Holztisch und bestellte Mass und Schweinshaxe – genauso wie mein Tischnachbar. „Wo kommst du her?“, wollte er wissen. „Woas, aus Bremen! Oa Preuß‘! Ihr lebt von uns. Ohne uns wärt ihr arm wie Angolaner“ Worauf ich ihm erwiderte, dass wir Bremer Bayern gerne unterstützten in der großen Zeit unserer florierenden Werftenindustrie. Warum denn der Tuchel beim FC Bayern gescheitert sei?, wollte ich von ihm erfahren. „Der Höneß konnte mit dem nicht. Ohne Wohlwollen vom Höneß geht gar nichts beim FC Bayern.“ Dann sangen Fans von Werder Bremen lauthals los: „Zieht den Bayern die Lederhosen aus“. Sie waren zum Spiel angereist. Was er zu dieser Majestätsbeleidigung meine, fragte ich ihn. „Wir sprechen uns nach dem ‚Spiel wieder.“ Nach dem Spiel musste ich an den Bayern denken. Werders Auftritt war kläglich und endete mit 0:3. Kein Bremer sang mehr. Bei Bier, Haxe und Blasmusik bekam ich einen Eindruck, wie man in München lebt und wie stolz und selbstbewusst man ist (im Gegensatz zu uns Bremern – wir tun nur so). Die anfängliche Abfälligkeit des Bayern war gespielt. Eigentlich freute er sich über die muntere Unterhaltung mit einem „Fischkopf“. Als ich aus München abreiste, überlegte ich mir, was das Schönste an der Stadt war. Mir fielen nicht zuerst die Highlights ein, sondern der coole Münchner mit dem großen Durst. Um auszudrücken, was das für mich bedeutet, leihe ich mir Worte vom Schriftsteller Erich Kästner. Vor langer Zeit las ich sie und vergaß sie nicht mehr. Sie drücken aus, worauf es mir beim Reisen und überhaupt im Leben ankommt: „Das Interessanteste für den Menschen ist der Mensch.“ Immer geht es mir um Begegnungen mit Menschen. Berichte ich über Reisen, erzähle ich von Einheimischen. Schreibe ich, zitiere ich sie. Genau wie ich sind sie ins Leben geworfen und mit dem Auftrag versehen worden: Mach‘ was daraus! Wie stellen sie das an? Genau das will ich von ihnen wissen. Die alte Reiseweisheit „Fremdes Land mehrt den Verstand“ motiviert mich, mich mit fremden Menschen zu vergleichen. Was machen sie anders, was besser, was schlechter als ich? Was lerne ich von ihnen? Was lernen sie vielleicht von mir? So wächst der Verstand und die Kenntnis von der Welt. Kenne ich an einem fernen Ort jemanden, ist mir die Welt ein Stück vertraut geworden.
Als ich mit einem Passagierschiff die Westküste Afrikas entlang fuhr, reizten mich die organisierten Landausflüge gar nicht. Ich zog es vor, durch das namibische Lüderitz zu bummeln und auf Inspiration zu warten. Die kam. Auf der Halbinsel Shark Island sichtete ich zwar keine Haie und Robben, sondern wurde mit den Verbrechen meiner Vorfahren konfrontiert. Deutsche Kolonialisten hatten 1904 ein Concentration Camp in bester Lage am Meer errichtet. Eine Gedenkstätte erinnert an den Völkermord an aufständischen Namas und Herreros. Mit einem mulmigen Gefühl besuchte ich anschließend die deutsche Kirche. Ich traf auf ein Gemeindemitglied und stellte mich ihm als Bremer vor. Mein Landsmann, der Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz, hatte die Stadt 1883 gegründet, um vor Ort nach Gold und Diamanten zu suchen, das Deutsche Reich stellte sie unter seinen Schutz. Den Genozid kommentierte der Deutsche lakonisch mit „heiße Luft“. Mir ging die Frage durch den Kopf, wie Weiße und Schwarze mit solch einem unterschiedlichen Geschichtsverständnis zusammenleben können. Das sei heute kein Problem, meinte er. Mein Stadtbummel führte mich anschließend in die Bar Rizzis. Bei Windhoek Bier erzählte ich der schwarzen Wirtin von meinem Besuch der Gedenkstätte und vom Kommentar des Deutschen. Sie lächelte sanft. Ja, manche Deutsche verleugneten die Tatsachen. Aber die Deutschen hätten die Stadt erbaut, wo nichts als Sand war, und ihre Energie in die Entwicklung gesteckt. Davon profitiere man heute. „Sie haben ihre Schuld wiedergutgemacht“ („paid back“). Ich hörte gerne, dass heute Schwarze und Weiße heirateten. Mein mulmiges Gefühl verflog.
Am Abend berichteten die Passagiere vom Besuch der Geisterstadt Kolmanskop und des Lüderitz Museums. Darauf schilderte ich meine Begegnungen und berichtete von Schuld, Wiedergutmachung und Vergebung. Sie hörten aufmerksam zu und hatten großes Interesse. Woran? An den Menschen. An deren Versuchen, miteinander auszukommen und in Frieden zu leben. An ihrer Ignoranz und an ihrer Gutmütigkeit. An ihrem Scheitern und an ihrem Erfolg.
Gegen Ende der Reise legte mein Schiff in Santa Cruz, der Hauptstadt Teneriffas, an. Mit dem öffentlichen Bus 910 fuhr ich in den kleinen Nachbarort St. Andres und lief dort zielstrebig zur Playa de Las Teresitas. Hellgelber, feiner (aufgeschütteter) Saharasand unter schattenspendenden Palmen versetzte mich augenblicklich in eine karibische Stimmung. Nach dem Schwimmen lief ich durch die Gassen des Ortes und kehrte in eine Bar ein. Ein Glas guter Rotwein kostete Euro 1,50. Vom Nebentisch aus sprach mich ein flotter, älterer Mann mit blonden langen Haaren wie Günter Netzer an. „Hier ist alles so billig. Ich werde mein Geld nicht los. Was soll ich nur tun?“. Erst ging es auf Englisch hin und her, dann auf Deutsch, er stammt aus Bayern. Ein Informatiker aus den Anfängen des Computerzeitalters. Mit 53 Jahren hatte er ausgesorgt. Kaufte sich ein Wohnmobil und fährt immer dahin, wo gutes Wetter ist. Eigentlich wollte ich noch durch Santa Cruz spazieren – davon kam ich ganz ab. Mit Ruppert bestellte ich noch manches Glas, rief den vorbeigehenden Einheimischen wie er ein freundliches „Ola“ entgegen und konnte dem Gefühl nicht wiederstehen, dass ich dazu gehörte.
Die Hauptstadt muss ich mir auf einer anderen Reise noch ansehen. Dieses Mal habe ich sie nicht vermisst. An Ruppert und die frohen Stunden erinnere ich mich immer wieder. Wo er wohl gerade herumfährt?
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