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Reisemagazin „unterwegs“, Ausgabe Frühling 2024 („unterwegs.reisen“):
Glosse: Lass es krachen!
„Wie gut, dass keiner weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß‘!“ Wie gut, dass auf Reisen keiner Paul Mustermann aus Bielefeld oder Elisa Schmitt aus Wuppertal kennt. Steigen wir aus dem Flugzeug oder aus der Eisenbahn, sind wir augenblicklich Herr oder Frau Unbekannt. Muss uns die Anonymität traurig machen? Dass wir niemand sind? Ganz und gar nicht! Kennt uns niemand, sagt uns auch niemand, wie wir zu sein haben und wie nicht. Warum fliege ich denn zum Karneval nach Rio? Um es völlig unbeschwert krachen zu lassen.
Den Paul Mustermann kennen sie vor Ort. Wankt er aus seiner Stammkneipe, läuft ihm, wenn er Pech hat, der Vorgesetzte über den Weg: „Na, Herr Mustermann, ganz schön einen getankt. War wohl einer zu viel, was? “ Brüllt er am Sonnabendnachmittag im Ostertor-Viertel dreimal laufhals „Werder Bremen“ und trägt auch noch sein grün-weißes Lieblingstrikot mit Claudio Pizarros Namen, rümpft die Nachbarin die Nase: „Wie ein 13-jähriger. Wie lächerlich!“ Und schleicht er aus der Helenenstraße, wo gerade professionelle Damen nett zu ihm waren, steht auf einmal die grimmige Mutter vor ihm.
Verreise – und du bist deine Hemmungen los! „Weiß ja keiner“, ermutigte mich eine freundliche junge Chinesin in Shanghai. Sie hatte mir eine „Massage“ angeboten und ich hatte mit der Begründung abgelehnt, ich sei verheiratet. Sie: „Du bist alleine unterwegs. Warum willst du nicht ein bisschen Spaß haben?“ Meine Reaktion: „Ich bin gerne alleine unterwegs und habe zu Hause genug Spaß.“ Sie: „Das glaube ich dir nicht.“ Paul Mustermann ist ungebunden. Er hätte nicht antworten können, er sei verheiratet. Die Ausgangslage wäre eine andere gewesen. Er hätte sich sogar gegenüber seiner Mutter auf seinen „Alter Ego“ berufen können.
Alter Ego heißt auf Deutsch das andere Ich, die andere Identität und beschreibt einen Menschen mit einer vordergründigen und einer hintergründigen Identität. Seine öffentliche Psyche kennen die Leute in seiner Umgebung, die andere bleibt ihnen zumeist verborgen. Manchmal kennt man seine zweite Seele nicht mal selbst, oder will sie nicht kennen. Da muss dann erst ein Psychologe ran, sie erkennen und sie Paul knallhart vor Augen führen: „Das bist du auch!“ Oder Paul geht zum Karneval.
Am Tag zuvor kauft er sich eine Perücke Marke „Mähne“ mit blondem, langem Haar, das rechts gescheitelt ist, eine fette Tolle fällt ihm in die Stirn. Vor dem Spiegel übt er breitbeinig zu stehen wie John Wayne in „Der große Treck“. Er übt eine verkniffene Miene ein, es muss nach Verstopfung aussehen. Fertig ist Paul-Donald-Trump. So zieht er los nach Köln, Venedig, Teneriffa oder gleich nach Rio de Janeiro zur größten Sause der Welt. Einen Tag lang schert er sich nicht um Anstand und Höflichkeit, sondern bellt wie ein ruppiger Rüde. Er drängt die anderen beim Bierholen zur Seite, wehe, wenn einer ihn anmacht. Alles ist Spiel, deshalb bekommt er auch keinen aufs Maul, sondern löst vergnügte Lacher aus. Endlich darf er mal…
Der Ursprung des Karnevals liegt im katholischen Kirchenjahr begründet. Karneval geht Aschermittwoch und der strengen Fastenzeit vor Ostern voraus. Bevor die 40 enthaltsamen Tage beginnen, wird noch mal ordentlich Fleisch gefuttert und Hochprozentiges gesoffen, spielen Kapellen auf zu Tanz, Jux und Tollerei. Carne vale: Das Fleisch, das leibliche Begehren, es lebe hoch! Alles ist erlaubt, bevor alles verboten ist. Sei, der du sonst nicht sein darfst! Dann fällt dir die Zeit der Buße und Verbote nicht so schwer. Die armen Evangelischen: Da in ihren Ländern nicht gefastet wurde, gab es auch keinen Anlass für eine „fünfte Jahreszeit“, den Karneval. Ihnen fehlt deshalb einfach die katholische Leichtigkeit des Seins (jedenfalls im Fasching). Sie meiden Köln und Mainz am 11.11., dem Narrentag.
Die größte Parade der Welt bietet Rio de Janeiro. Flugzeug um Flugzeug landet in den Tagen zuvor in Brasilien und bringt Karnevalisten. Du hast recht, lieber Leser, liebe Leserin, das ist ökologischer Irrsinn, völlig verantwortungslos. Ich bin evangelisch, ich sehe das genauso. Karnevalsreisen gehören verboten! Brasilianer führen ein hartes Leben, sie warten darauf, eine kurze Zeit einmal alles zu vergessen und nur zu feiern. Lieber Leser, liebe Leserin, ich kann dir nur zustimmen: Die Slumbewohner, die ausgebeuteten Angestellten und die geknechteten Bauern sollten sich lieber politisch engagieren und für Gerechtigkeit an der Seite der katholischen, vom Marxismus beeinflussten Priester der rebellischen „Kirche der Befreiung“ kämpfen. Was soll die Zerstreuung? Schluss mit dem „Opium fürs Volk“.
Oder nach Venedig? Die Lagunenstadt zeigt im Karneval nicht weniger als ihre Grandezza. Ein Fackelzug eröffnet das Fest, Trommeln erschallen auf dem Markusplatz. Jedes pompöse Kostüm und jede Maske ist ein Unikat. Am zweiten Tag beim „Flug der Taube“ schwebt eine Riesentaube über der Stadt und streut Konfetti aus, aus purer Kinderlust lassen die Feiernden Luftballons aufsteigen. Oder nach Madeira? Bei der Allegoric Parade verkleiden sich tausend Einheimische der Blumeninsel als bunte Blumen, als phantastische Tiere oder als Sexbomben mit viel nackter Haut. Am Ziel des Marsches beim Busplatz stehen ihre Ehemänner und hüllen sie ein in wärmende Jacken. Das Spiel ist aus. Paul Mustermann mit der blonden Mähne nimmt nachmittags am Umzug der Tollpatsche teil und irrlichtet als lärmender Narr über die Avenida do Mar. Da ist nur noch ein kleiner Unterschied zu seinem großen Vorbild: Für Donald den echten ist jeden Tag des Jahres Karneval. Paul, du musst dich gar nicht entschuldigen. Du kannst ja nichts dafür. So bist du nun mal auch. Im Kerkeling steckt ja auch der Schlämmer. Lass es mal raus…
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