Die letzte Hoffnung der Palästinenser – Eine alternative Reise durch das Heilige Land

Islamische Zeitung 3/2019

Sage mir, wer dein Reiseführer gewesen ist, und ich sage dir, wie du Israel erlebt hast! Viele Reisende hören die israelische Erzählung des Konflikts: Das kleine Volk der Juden sei in ständiger Gefahr durch den Antisemitismus der feindlichen arabischen Nachbarn, die Palästinenser wollten Israel zerstören. Von Johannes Zang hören die Teilnehmer die palästinensische Erzählung.
Als ich mit ihm und einer deutschen Gruppe durch Israel und Palästina reise, kreisen Polizeihubschrauber über Jerusalem, häufig kommt es zu Messerattacken von Palästinensern an israelischen Polizisten und Soldaten, die Sicherheitskräfte schießen scharf. Reiseleiter Zang ermöglicht Begegnungen mit Palästinensern. Immer wieder berichten sie uns dabei von ihrer Verzweiflung angesichts der Besetzung ihres Landes durch die israelische Armee, durch ihre Rechtslosigkeit, durch ihre aussichtslose Lage. Ihre Erzählung lautet so: Die jüdischen Israelis geben sich mit der Landesteilung nicht zufrieden, sie wollen das palästinensische Volk vertreiben und ein Großreich Israel gründen. In Deutschland lässt sich diese Sicht des Konflikts nur schwer vermitteln. Ich bin froh über ein starkes Argument durch die Sicht eines neutralen Beobachters. Der Generalsekretär der UNO, Ban Ki Moon, hatte 2016 Verständnis für die Verzweiflung der Palästinenser geäußert: „Unterdrückte Völker reagieren auf Besatzung mit Hass und Extremismus.“ Die Ursache der Gewalt sieht er in den völkerrechtswidrigen israelischen Siedlungen im palästinensischen Westjordanland – nicht im Wunsch der Palästinenser, Israel zu vernichten. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu reagierte aggressiv: „Der Generalsekretär ermuntert zum Terror. Die palästinensischen Mörder wollen keinen Staat errichten, sondern einen Staat zerstören.“
Johannes Zang lebt heute in Deutschland. Er hat acht Jahre als Musiklehrer an der lutherischen-palästinensischen Weihnachtskirche in Bethlehem gearbeitet und in der Zeit Arabisch gelernt. Als junger Mann lebte er in einem jüdischen Kibbuz und erlernte Hebräisch. In Bethlehem zeigt er auf das Haus, in dem er wohnte, auf Löcher in der Wand – Einschüsse durch israelische Soldaten während der zweiten Intifada. In den Straßen der Stadt umarmen ihn alte Bekannte, arabische Christen und Muslime. Pfarrer Mitri Raheb war damals sein Chef.
Bei unserem Treffen mit dem Leiter der von Deutschen gegründeten Gemeinde geht es um das Kairos-Palästina-Dokument, Raheb ist einer der Autoren. Die Patriarchen und Oberhäupter der orthodoxen, evangelischen, anglikanischen und katholischen Kirchen Jerusalems richten das Wort an die Welt und weisen auf ihre „Unterdrückung, Vertreibung, Leiden und Apartheit“ hin, die die Palästinenser schon 60 Jahre lang erleben. Sie beklagen, dass die internationale Gemeinschaft dazu schweigt. Raheb erklärte, dass die Palästinenser ein natürliches Recht hätten, im Land zu leben: Sie lebten in Palästina seit Jahrhunderten. Und das positive Recht sei auf ihrer Seite: Das Völkerrecht verbiete dauerhafte Besatzung und Annexion. Auch wenn Israels Berufung auf ein religiöses Sonderrecht, das Land sei von Gott dem Volk Israel versprochen, Raheb absurd erscheint, streitet er dem jüdischen Volk nicht sein Existenzrecht in Israel ab. Radikalen auf seiner Seite, die mit Gewalt ein Groß-Palästina ohne den jüdischen Staat erschaffen wollen, wirft er eine fanatische und extreme Ideologie vor.
Israelische Agenturen vermitteln Reisegruppen an Hotels in Israel, sie warnen davor, sich nachts im Westjordanland aufzuhalten. Johannes Zang entlockt diese Warnung nur ein müdes Lächeln, er bringt seine Gruppen im palästinensischen Westjordanland unter. Zum Beispiel in der Abrahamsherberge der lutherischen Kirchengemeinde in Beth Jala. Ich habe die Gelegenheit mit Mitarbeitern und Gemeindemitgliedern zu sprechen. Viele kirchliche Repräsentanten aus Deutschland übernachten regelmäßig im Hotel. In persönlichen Gesprächen drückten die Gäste den Palästinensern regelmäßig ihr Bedauern für ihre entsetzliche Lage unter israelischer Besatzung aus, aber offiziell spräche sich keiner für die Rechte der Palästinenser aus, beklagen die Christen aus Bet Jala. Was von der EKD offiziell gesagt wird, geht aus der Stellungnahme der Kirchenkonferenz zu Kairos Palästina hervor. Hauptanliegen ist die Betonung des Existenzrechts Israels. Kritisiert werden radikale Palästinensergruppen, der Aufruf, Israel zu boykottieren, und der Vergleich mit dem Apartheitregime in Südafrika. Die palästinensischen Christen können nicht begreifen, dass sie von ihren Glaubensgeschwistern außerhalb des Nahen Ostens kaum Unterstützung erhalten. Mitri Raheb merkte ich seine tiefe Enttäuschung darüber an. Auch darüber: Auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Stuttgart trat er auf – außerhalb des offiziellen Programms. „Hoffentlich ist das 2017 in Berlin anders“, sage ich ihm. „Ja, hoffentlich!“
Mitri Raheb betreibt kontextuelle Theologie, und der Kontext ist Unterdrückung. Er arbeitet eng mit Sabeel, dem Zentrum für christliche Befreiungstheologie in Jerusalem, zusammen. Wir verlassen das Westjordanland und passieren eine israelische Sperranlage mit einem Checkpoint, um nach Jerusalem zu kommen. Der internationale Strafgerichtshof in Den Haag urteilte 2004 in einem Rechtsgutachten, dass die Mauer einen Bruch internationalen Rechts darstellt und forderte den Abriss – Israel baut weiter. Zu über 80 Prozent verläuft sie auf dem Land der Palästinenser und zertrennt es, nur ein kleiner Teil bleibt auf der offiziellen Grenze beider Länder.
In Jerusalem treffen wir auf Cedar Duaybis, einer der Gründerinnen von Sabeel, und nehmen ihre Kritik an deutschen Theologen zur Kenntnis. Man verstehe nicht, wie die rheinische Kirche die Inbesitznahme des Heiligen Landes durch das jüdische Volk als Willen Gottes bezeichnen und die Vertreibung der Palästinenser und die Besetzung ihres Landes ignorieren kann. Es ist zu beobachten, dass palästinensische Christen bemüht sind, den positiven Bezug der deutschen Theologie zum Judentum und zum Volk Israel als Reaktion auf Holocaust und theologischen Antisemitismus zu verstehen – doch für Palästinenser sagt die „Theologie nach Ausschwitz“ nicht die Wahrheit über die politische Realität im Land.
Mitglieder von Sabeel schildern, wie britische Missionare den Palästinensern eine wörtliche Auslegung der Bibel beibrachten. Die Eroberung Jerichos durch Joshua galt als Erfüllung der göttlichen Verheißung. Nach 1948, nach der ersten Vertreibung hunderttausender Palästinenser in die Nachbarländer, wurde diese Art Bibelglaube erschüttert. Die Christen gingen nicht mehr in die Gottesdienste, weil sie nicht mehr Israel mit frommen Liedern und Psalmen besingen wollten: „Wir konnten das Wort `Israel` nicht mehr hören“, beschreibt jemand die Kluft zwischen Bibel und Realität. Die Palästinenser begannen, die Bibel anders zu lesen. Das „verheißene Land“ wurde als Metapher für den Frieden aller Völker verstanden – nicht nur als Frieden und Sicherheit für Israel. Für Sabeel geht es darum, wie Jesus die Wahrheit zu sagen. „Wenn wir an den Checkpoints sehen, wie Palästinenser von israelischen Soldaten gedemütigt werden, dann sprechen wir die Wahrheit aus – auch wenn wir dafür ins Gefängnis gehen“.
Was geschieht an den Checkpoints? Johannes Zang hat seit Langem Kontakt zu den Frauen der Organisation Checkpoint Watch. Wir treffen die Israelin Ronni Perlmann. Mit anderen Frauen versucht sie deeskalierend auf Soldaten einzuwirken und dokumentiert Unrecht. Wie es ihr dabei geht? Sie schildert ihren Gewissenskonflikt. „Die Gesellschaft steht am Abgrund. An den Checkpoints kommt es tagtäglich zu Menschenrechtsverletzungen. Palästinenser müssen oft stundenlang in der Sonne warten, werden aggressiv, manche werden ohne Erklärung nicht durchgelassen, sie kommen nicht zu ihren Feldern, nicht zu ihren Kunden oder Arbeitsplätzen auf der anderen Seite. Manche bekommen nie einen Passierschein.“ Die Armee könne die Israelis letztlich nicht verteidigen, wenn es hart auf hart käme; nur der Friede könne ihnen und den Palästinensern helfen. Eine beachtenswerte Haltung! Aber nicht in diesen Zeiten. Ein Riss geht durch die Familie von Ronni Perlmann. Die Söhne bezeichnen ihren Einsatz als Verrat am eigenen Volk – „das tut mir weh“, sagt sie.
Als Touristen können wir uns frei bewegen und die Mauer passieren. Johannes Zang fährt mit uns durch das palästinensische Westjordanland und zeigt uns die sogenannten „Siedlungen“, von Israel völkerrechtswidrig besetzte Gebiete. Wir besuchen die Olivenbaumfarm von Daoud Nasar. Ein Berg im Westjordanland gehört seiner Familie seit Jahrhunderten. Von oben gucken wir hinab ins Flachland und sehen fünf israelische „Siedlungen“, richtiger: fünf israelische Städte. Denn Siedlungen haben mitunter bis zu 40 000 Bewohner. Der Palästinenser kämpft gegen seine Enteignung – der israelische Staat will sein Land haben. Ein seltener Glücksfall ist, dass die Familie noch aus osmanischer Zeit eine Eigentumsurkunde besitzt, die meisten enteigneten Palästinenser hatten keine. Den Siedlern ringsherum ist das egal. In einer nächtlichen Aktion haben sie 1000 Olivenbäume kurz vor der Ernte zerstört. Mit Freiwilligen aus aller Welt hat Daoud dieses Jahr 4000 neue Bäume angebaut. Daoud ist das arabische Wort für David. Hier kämpft David gegen Goliath. Manchem in unserer Reisegruppe wird die palästinensische Realität unerträglich. Aber es wird noch unerträglicher.
Wir lassen uns auf eine Begegnung mit Jehuda Shaul ein. Der orthodoxe Jude engagiert sich in der Veteranen-Organisation Breaking the Silence. In der israelischen Armee kommandierte er als Sergeant eine Kampfeinheit von 120 Soldaten. Einsatzort: das besetzte Hebron in der Westbank. Er schildert, dass er und seine Kameraden spürten: „Etwas stimmt nicht.“ Seine Aufgabe war, den Palästinensern Angst zu machen und das Maß immer mehr zu erhöhen. Willkürlich stürmte sein Trupp nachts Häuser und durchsuchte sie. „Die Palästinenser sollten fühlen, dass sie gejagt werden.“ Bei Hauszerstörungen wurde den Bewohnern fünf Minuten Zeit gegeben, ihr Haus zu verlassen, dann kam der Bagger. Es stimmte nicht, dass die Armee das eigene Land verteidigen sollte, aber mit ihrem Vorgehen den Hass und den Widerstand gegen die Besatzung stärkte.
Nach dem Gespräch entscheiden wir uns dafür nach Hebron zu fahren. In der Stadt befindet sich das Grab Abrahams und seiner Frau Sara. Muslime und Juden verehren den Patriarchen gleichermaßen. Doch damit hört die Gemeinsamkeit schon auf. In Hebron liegt die einzige israelische Siedlung in einem Stadtgebiet. Die Stadt ist geteilt, doch begegnen sich Juden und Palästinenser, ob sie wollen oder nicht. Dabei kommt es immer wieder zu Gewalt – zumeist zu Übergriffen auf Palästinenser. Das berichten Mitarbeiter von EAPPI, dem Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel des Ökumenischen Rates der Kirchen. Durch ihre Anwesenheit wollen sie Palästinenser vor Armee und Siedlern schützen. Als wir Mitarbeiter auf ihrem Gang durch die Stadt begleiten, werden sie aufgrund ihrer EAPPI-Kennzeichnung von einem Siedler erkannt. Der bewaffnete Mann rennt auf die jungen Freiwilligen zu und beschimpft sie auf Deutsch, dass sie die Stadt „judenrein“ haben wollen, sie sollen verschwinden. Ich weise ihn auf die Illegalität der Siedlung hin, er beschimpft mich als Nazi. Soldaten mit Maschinengewehren eilen herbei und stellen sich hinter ihn. Hinterher erzählen die Beiden von EAPPI, dass sie regelmäßig mit Steinen beworfen werden.
Damit genug. Meine Darstellung beschreibt den Konflikt nicht aus der in Deutschland gewohnten israelischen Perspektive – die Bevölkerung wird ein ums andere Mal einseitig auf die israelische Erzählung eingeschworen. Natürlich steht das Existenzrecht Israels und seine Sicherheit außer Frage, und Deutschland trägt auch aus historischen Gründen Mitverantwortung für seinen Schutz gegen extremistische Kräfte auf der anderen Seite, die den Staat Israel vernichten und die Juden ins Meer treiben wollen. Gleichwohl muss das Unrecht beim Namen genannt und darf nicht verharmlost werden. Johannes Zang hat mit einem Bundestagsabgeordneten über die Lage der Palästinenser gesprochen. Der Abgeordnete teilte seine Meinung, fügte dann aber hinzu: „Wenn ich das öffentlich sage, ist meine politische Karriere zu Ende.“ Andere, die freier sind, müssen öffentlich sagen, was sie sehen und hören. Um des Friedens willen. Die Welt muss eingreifen und Israel in seine Grenzen weisen. Das ist die letzte Hoffnung der Palästinenser.